Gedanken zum Aufkommen und Verschwinden der Eisenbahnlinien

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erfuhr der Eisenbahnbau in ganz Europa einen zweiten, beispiellosen Boom. Der erste, eine Generation früher, hatte den Bau der grossen Linien gebracht, die meistenteils noch heute bestehen. Nun ging es darum, das "Hinterland" an das bestehende Netz anzubinden. Bedenkt man den allgemeinen Zustand der Strassen bis zum ersten Weltkrieg, so verwundert einen nicht, dass man dazumals Schienen verlegte, wo sie sich nur verlegen liessen. Was einstmals als gute Landstrasse galt, würde heute lediglich als staubiger, von Schlaglöchern durchsetzter Feldweg durchgehen. Selbst mit dem Aufkommen der ersten Automobile und Lastwagen kam man auf diesen Strassen zu Zeiten höchstens so schnell voran wie heute auf einer gemütlichen Fahrradtour. Vor diesem Hintergrund war die Eisenbahn, selbst in Form einer langsamen Schmalspurbahn, ein enormer Fortschritt, ja verkörperte diesen geradezu. Darüber hinaus war das Anbinden des ländlichen Raumes politisch gewollt, um die wirtschaftliche Entwicklung auch in abgelegenen Gegenden zu fördern.



Französisches Eisenbahnnetz um 1920


Vergleicht man Netzkarten aus den Jahren zwischen den Weltkriegen mit den heute betriebenen Schienennetzen, dann wirken die Karten von heute im Vergleich geradezu leer, ähnlich leer wie diejenigen bis zur Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Viele der in der Aufbruchsstimmung gebauten "sekundären" Linien erwiesen sich als chronisch defizitär--insbesondere mit dem Erstarken des Individualverkehres nach dem ersten Weltkrieg. Die enorme Verbesserung des allgemeinen Strassenzustandes nahm der Eisenbahn im lokalen Bereich ihren grössten Vorteil der überlegenen Geschwindigkeit. Man muss bedenken, dass eine typische Schmalspurbahn mit ihrem stark kurvigen Verlauf entlang der Landstrassen einschliesslich der Zeiten zum Rangieren und zum Auffüllen von Wasser und Kohle kaum über eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 km/h hinaus kam. Darüber hinaus nahmen mit dem zunehmenden Strassenverkehr auch die Unfälle mit dem Schienenverkehr zu, behinderten die ständig kreuzenden Bahngeleise den Strassenverkehr. Man kann das Weiterwachsen des Netzes zu Zeiten, als die Konkurrenz der Strasse unübersehber stärker wurde, durchaus vergleichen mit so mancher Investitionsblase davor und danach, in der eine spezielle Neuerung oder Mode--heute sagt man eher Trend--die Träume nach unbegrenztem Profit verbunden mit schicker Modernität ins Kraut schiessen liess und zur Investition in Fässer ohne Boden verführte.


Eine kleine Reise durch den Jura

Um sich die Dichte des Netzes selbst im ländlichen Raum klar zu machen, wollen wir eine kleine Reise auf der Landstrasse entlang der Jura-Höhen in den Departementen Doubs und Jura vom Clos du Doubs ausgehend in Richtung Südwest unternehmen. Von St. Hippolyte über die Gegenden von Pontarlier und Champagnole bis hin nach St. Claude oder Morez sind wir kaum jemals mehr als zehn Auto-Minuten vom nächstgelegenen ehemaligen Bahnhof entfernt. Ständig kreuzen wir die Linien des Netzes von Pontarlier, der Tramlinien von Champagnole und des Schmalspurnetzes von Lons-le-Saunier und Clairvaux-le-Lac oder fahren gar entlang und auf ihren ehemaligen Trassen, die sich einstmals durch die hügelig-bergige Jura-Landschaft wanden.
Begeben wir uns nun entlang der ehemaligen Tramlinie Morez - Nyon hinauf ins Vallée de Joux und fahren auf Schweizer Gebiet über Vallorbe, Travers, La-Chaux-de-Fonds und Saignelégier wieder nach St. Ursanne im Clos du Doubs zurück, so ist auch hier der nächste Bahnhof stets nur wenige Autominuten entfernt. Nur werden alle diese Bahnhöfe noch heute im Stundentakt bedient--Eisenbahnland Schweiz mag man sagen. Woher kommt dieser Unterschied? Wieso ist das Netz in der Schweiz heute noch so dicht wie Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, während in den Nachbarländern nur noch ein Bruchteil davon in Betrieb ist, die unbenutzten Linien vielerorts nicht einmal mehr Spuren auf den heutigen Tag hinterlassen haben?

Die Sonderstellung der Schweiz begründet sich vermutlich darin, dass man um den ersten Weltkrieg herum erkannte, wie sehr ein funktionierendes Netz vom Import von Kohle abhing, die es in der Schweiz nicht gibt. Die einzige inländische und seit Jahrhunderten genutzte Energiequelle war die Wasserkraft und mit ihr die Elektrizität. So begann man Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, in den Hochtälern der Alpen zahlreiche Stauseen zu bauen und innerhalb kurzer Zeit das gesamte Eisenbahnnetz auf Strombetrieb umzustellen. Um den zweiten Weltkrieg war das Ansehen der Eisenbahn vielerorts vom Symbol des Fortschritts zu dem des rauchenden, stinkenden und lärmenden Ungetüm aus dem vergangenen Jahrhundert mutiert. Photographische Aufnahmen von einem Tram, das bei der Durchfahrt einer engen Strasse eine dunkle Rauchwolke ausstösst, die bis weit über die Hausdächer reicht, sprechen eine beredte Sprache. Nach jedem Vorbeifahren des Trams einen Fensterputz machen zu müssen, hat den Ruf der "Eisenrösser" sicher nicht gefördert.

Bei den Kleinbahnen, in Frankreich oft liebevoll-abschätzig "Tacot" genannt, kamen noch die häufigen Unfälle und Entgleisungen hinzu, sei es wegen des oft schlechten Zustandes der Strecken und des Rollmateriales, der ungenügenden Ausbildung des Personals, der Unachtsamkeit von Anwohnern und Automobilisten oder weil der Lockführer beim letzten Aufenthalt mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte, worauf ihm das Gefühl für die Geschwindigkeit seines Konvois und die Tücken des Bremssystems abhanden gekommen war.

Automobile, Busse und Lastwagen waren demgegenüber höchst saubere, effiziente und leise Vehikel, ein Verschmutzungs-Problem durch Verbrennungs-Motoren in der Zukunft hat sich damals wohl kaum jemand vorstellen können. Zur selben Zeit hatte jedoch die Elektrifizierung der Schweizer Bahnen nicht nur das Verschmutzungs-Problem gelöst, sondern auch eine Modernisierung des Rollmaterials mit sich gebracht. Ein wesentlich besseres Image der Eisenbahn in der Bevökerung ist somit nicht verwunderlich. Lediglich in der Westschweiz wurden Tramlinien in ähnlichem Umfang eingestellt wie andernorts.

Einen weiteren Unterschied erkennen wir, wenn wir die häufigen Anordnung zu "Einstellung des Betriebs und unverzüglichem Abbau der Anlagen" durch Präsidien und Prefekturen aus den 30er bis 50er Jahren durchsehen. Nicht selten scheint die in der Politik seit jeher gerne betriebene Errichtung unumkehrbarer Fakten durch. Auch nach einer möglichen Abwahl oder Abberufung soll ein Nachfolger nicht so einfach eine einmal gefällte Entscheidung wieder zurücknehmen können, Symbol der persönlichen Machtbefugnisse. Nun ist der Abbau einer öffentlichen Infrastruktur wie einer Bahnlinie in der Schweiz nicht einfach "par ordre du moufti" möglich. Es muss vielmehr zunächst in vielen Teilen der Souverän--die Wahlbevölkerung--um Zustimmung gefragt werden. Man darf davon ausgehen, dass auch andernorts einer Vielzahl von Bahnlinien zumindest ein längeres Leben beschieden gewesen wäre, wäre man an das mehrheitliche Einverständnis der Bevölkerung gebunden gewesen, für die zur Zeit der zahlreichen Einstellungen die öffentlichen Verkehrsmittel noch auf geraume Weile das einzig erschwlingliche Mittel zur Fortbewegung darstellte, wenn es denn nicht "Schusters Rappen" sein konnte oder sollte.

Und die Zukunft?

An ein Wiedererstehen der alten Linien in Zukunft ist zumindest im ländlichen Raum kaum zu denken. Dazu müsste zu allererst der Individualverkehr im Vergleich zum öffentlichen Transport so unerschwinglich teuer werden, dass man "s' heiligs Blechle" aus Kostengründen nur verwendete, wenn die Benützung eines öffentlichen Verkehrsmittel unmöglich wäre. Überdies müsste die Erhaltung zweier paralleler Transportinfrastrukturen, Strasse und Schiene, gerechtfertigt sein. Der grosse Nachteil des festgelegten Fahrweges könnte nur durch den Vorteil des geringeren Energieverbrauchs--bei entsprechender Auslastung--durch die gleichmässigere Streckenführung ausgeglichen werden, und liefe erneut auf die Bedingung von enorm gestiegenen Energiekosten hinaus. Nun steht zwar wohl ausser Frage, dass Energie in Zukunft wesentlich teurer werden wird. Eine Preissteigerung jedoch, die eine "Bimmelbahn" wirtschaftlich attraktiver macht als einen Autobus, hätte derart tiefgreifende Folgen für die gesamte Wirtschaftsstruktur, dass ein Raisonnieren über Form und Zukunft einer spezifischen Form des öffentlichen Transportes müssig erscheint.

Neueröffnung

Schon anders sieht es in und in der der Nähe von grösseren Agglomerationen aus. Beispielsweise hat man im Osten von Lyon auf der Trasse der alten Normalspurlinie nach Bourgoin-Jallieu bis Meyzieu eine neue Tramlinie gebaut. Auch im Westen der Stadt wäre man heute sicher froh, die Linien nach Vaugneray und Messimy/Mornant existierten noch. In der Zeit, die ein Pendler heutzutage zur Stosszeit durch Craponne hindurch hinein nach Lyon benötigt, hätte der Tacot dazumals dieselbe Strecke hin und zurück befahren. Heute denkt man über eine Bus-Schnellinie durch die Parkanlagen nach, unter Protest der Anwohner. Warum nicht gleich ein Tram? Das verbraucht weniger Platz. Allerdings ist die Trasse bis Demie-Lune heute überbaut und es steht nur noch die Strasse zur Verfügung, dumm gelaufen.
Ein anderes schönes Beispiel ist die Bahnstrecke von Herrenberg nach Tübingen im schönen Schwabenland. Von der Deutschen Bundesbahn wegen mangelnder Rentabilität eingestellt wurde die Strecke durch Bürgerinitiative von einer privaten Gesellschaft wieder in Betrieb genommen und fährt seither Gewinn ein. Heute wird sie sogar wieder von Fahrzeugen der Bundesbahn bedient. Woher der "unerwartete" Erfolg? Stundentakt, inzwischen sogar Halbstundentakt und eine gute Anbindung ans S-Bahn Netz von Stuttgart, und schon sind die Züge voll. Soviel Voraussicht war im ehemaligen Staatsbetrieb offenbar nicht vorhanden. Ein Grund seien auch, so hört man, dass die Vorschriften für die DB schärfer seien. Man fragt sich, warum das so sein muss.
Ein weiteres, nicht sehr rühmliches Beispiel ist die Stadt Genf. Zur Zeit seiner grössten Ausdehnung Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts umfasste es über 120km. Diese wurden sukzessive abgerissen, bis 1968 nur noch eine Linie übrig blieb, deren Rollmaterial noch nicht abgeschrieben war. Schon wenige Jahre nach Entfernung der "vorletzten" Gleise stellte man fest, dass dies wohl keine gute Idee gewesen war und fing an, den Wiederausbau zu planen. Heute fahren auf gut 30km Schienen wieder Trams, wo es sie schon einstmals gegeben hatte und eine weiterer Ausbau wird fleissig geplant. Ob das mehrmalige Umgraben der Innenstadt in jüngerer Zeit tatsächlich weniger gekostet hat als ein durchgehender Unterhalt? schwer zu sagen.

Touristische Nutzung aufgegebener Bahnlinien

In ländlichen Regionen ist dagegen viel wahrscheinlicher die Nutzung für touristische Zwecke, der Umbau in Wander- und Fahrradwege, wie dies vielerorts bereits geschieht. In Frankreich hat sich für solche Wege der Name "voie verte", grüner Weg, eingebürgert.

Last modified: Sun Jun 9 23:14:45 CEST 2013